Gesundheitswesen 2023; 85(10): 887-894
DOI: 10.1055/a-2035-9107
Originalarbeit

Gesundheitskompetenz von Personen mit ex-sowjetischem und türkischem Migrationshintergrund in Deutschland

Health Literacy of People with Former Soviet Union and Turkish Migration Background in Germany
1   Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität zu Köln, Köln, Germany
,
Eva-Maria Berens
2   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
,
Sarah Carol
3   School of Sociology, University College Dublin, Dublin, Ireland
,
Doris Schaeffer
2   Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
› Author Affiliations

Funding Information Robert Bosch Stiftung
Preview

Zusammenfassung

Ziel Über die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland liegen bislang kaum Daten vor. Ziel des Artikels ist es daher, die Gesundheitskompetenz dieser Bevölkerungsgruppe – speziell von Menschen mit türkischem und ex-sowjetischem Migrationshintergrund – genauer zu analysieren.

Methodik Deutschlandweit wurden im Sommer 2020 525 Personen mit ex-sowjetischem und 512 Personen mit türkischem Migrationshintergrund ab 18 Jahren auf Deutsch, Russisch oder Türkisch interviewt. Die Erhebung der Gesundheitskompetenz erfolgte mittels des international entwickelten Instruments HLS19-Q47. Stratifiziert nach Migrationsgruppe wurde die Gesundheitskompetenz unter Berücksichtigung demographischer und sozioökonomischer, sprachlicher und migrationsspezifischer Variablen bivariat und multivariat untersucht.

Ergebnisse Insgesamt verfügt rund die Hälfte der Befragten über eine geringe Gesundheitskompetenz, wobei sich die beiden Migrationsgruppen nicht unterscheiden. Bei beiden gehen ein niedriges Bildungsniveau, sozioökonomische Benachteiligung, eingeschränkte deutschsprachige literale Fähigkeiten, ein höheres Alter, mehrfache chronische Erkrankung und eigene Migrationserfahrung mit einer geringen Gesundheitskompetenz einher. In den multivariaten Analysen bleiben Zusammenhänge zwischen Gesundheitskompetenz und literalen Fähigkeiten, Sozialstatus, finanzieller Deprivation und dem Vorliegen von einer chronischen Krankheit bestehen; adjustiert bleibt kein bedeutsamer Unterschied nach Migrationsgeneration.

Schlussfolgerung Ein erheblicher Teil an Personen mit türkischem und ex-sowjetischem Migrationshintergrund in Deutschland hat Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. Verglichen mit vorliegenden Studien ist ihre Gesund-heitskompetenz aber nicht geringer als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Personen mit Migrationshintergrund sind demzufolge nicht pauschal als vulnerabel für geringe Gesundheitskompetenz zu betrachten. Vor allem sozioökonomisch benachteiligte Teilgruppen haben häufiger eine geringe Gesundheitskompetenz. Interventionen sollten daher vor allem diese Teilgruppen adressieren und dabei zielgruppenspezifische und lebensweltliche Besonderheiten berücksichtigen. Darüber hinaus bestehen für Menschen mit geringen literalen Fähigkeiten und Deutschkenntnissen größere Schwierigkeiten, die Gesundheitsinformationen zu verarbeiten. Dies verdeutlicht den Bedarf an mehrsprachiger Information, aber auch an multimedialen Materialen in einfacher Sprache. Zudem sind strukturelle Maßnahmen für ein gesundheitskompetentes Gesundheitssystem notwendig, um die gesundheitliche Ungleichheit zu verringern.

Abstract

Aim So far, there are hardly any data on the health literacy of persons with a migration background in Germany. The aim of the article was to analyse the health literacy of this population group – particularly persons who originate in Turkey and the former Soviet Union (FSU).

Methodology In summer 2020, face-to-face interviews with 525 persons with FSU and 512 persons with Turkish migration background above the age of 18 were carried out across Germany. The interviews were conducted in German, Russian or Turkish. Health literacy was assessed using the internationally developed HLS19-Q47 instrument. Bivariate and multivariate analyses were carried out for each immigration group separately considering demographic, socioeconomic, linguistic and migration-specific variables.

Results Overall, around half of the respondents had low health literacy, with no differences between the immigration groups. In both groups, low educational levels, socioeconomic disadvantages, limited German literacy skills, older age, multiple chronic illnesses and personal experience of immigration were linked with lower health literacy. In multivariate analyses, associations between health literacy and literacy skills, social status, financial deprivation, and chronic illness remained; however, after adjustment, no significant difference persisted by immigration generation.

Conclusion While a significant proportion of persons with Turkish or FSU migration background in Germany have difficulty dealing with health information, compared with existing studies, they do not have a lower health literacy than the population without a migration background. People with a migration background are therefore not to be regarded as vulnerable to low health literacy in general. Particularly socioeconomically disadvantaged subgroups display low health literacy. Interventions should therefore target these subgroups specifically and consider their living conditions. In addition, people with low literacy skills and German proficiency have greater difficulties in processing health information. This highlights the need for multilingual information, but also for multimedia materials in plain language. Structural measures are necessary for a health-literate health system and for reducing health inequalities.



Publication History

Article published online:
30 May 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany